• Das Licht im Mobilitätsport schaltet sich ein. Hier unten, im Fundament des Hauses, gibt es keine Fenster. Die Frischluftventilatoren summen wie leise vibrierende Erde. Schattenspiele bedecken die Wände: Reifenstapel, Ladestationen, die Fahrzeuge selbst. Im Staufach von Arnolds Port ist die Abdeckplane sichtbar. Das war einer der Schatten, den Matthias und ich nicht gleich erkannt haben. Manchmal, wenn wir mit dem Auto von irgendwoher zurückkommen, legt er seinen Arm um mich und wir bleiben minutenlang vor den Wänden stehen, um neue Schatten zu erraten oder alte zu memorieren. Wir kennen sie mittlerweile fast alle. Neben ihrem Schattendasein selbst besteht die andere Schwierigkeit im Erraten darin, dass sie nicht still stehen sondern sich bewegen, flirren, als würden sie von Fackeln erzeugt. Bis heute haben wir noch nicht herausgefunden, wie der Lichtarchitekt diesen Effekt geschaffen hat: Eine sich nicht bewegende Lichtquelle erzeugt sich bewegende Schatten. Mein Schatten wird an die Wand des Fahrradabteils geworfen, körper- und ruhelos bewegt er sich hin- und her, als wäre er der aus meiner Existenz extrahierte dunkle Äther. Nirgendwo sonst kann man das besser sehen. Und niemand, der den Raum betritt, kann sich dem entziehen. Vielleicht kommt von daher die Idee, dass wenigstens hier unten, im Mobilitätsport, alle gleich sind, aber dem ist nicht so. Die Stellplätze folgen einem Auswahlverfahren, selbst bei den Fahrrädern. Für mein Fahrrad hätte ich auch einen Platz im Premiumabteil bekommen können, direkt am Zweiradpaternoster, eine eigene Box für jedes Fahrrad, mit automatischer Innenbeleuchtung. Doch das wollte ich nicht.
    Die Verwaltung hat sich darüber gewundert, warum ich die Möglichkeit ausschlüge, es sei doch Teil des Mietvertrags. So richtig kann ich mir das auch nicht erklären – es ist einfach ein Gefühl, dass mit der kontrollierten Segregation irgendetwas nicht stimmt.
    Aber vielleicht ist dieses Gefühl selbst auch nur ein Schatten, ein Schatten ohne Körper – und ohne Licht. Matthias meint, man könne nicht alles gleich machen. Segregation sei ein Grundprinzip der Natur, das jede Gesellschaft in irgendeiner Weise adaptieren müsse. Man könne nur versuchen, es durch konkrete Mechanismen abzufedern. Ob die Wahl des Fahrradabstellplatzes dazu gehöre, darüber wäre er sich nicht sicher. Lachfältchen umspielen seine Augen. In diesen Momenten kann ich ihm einfach nicht böse sein.
    Wenn man im Fahrradabteil zusätzlich Licht möchte, muss man einen altmodischen Schalter betätigen. Es sind die unscheinbaren Details, denen Bedeutung zukommt. Mein altmodisches Hollandfahrrad steht zwischen einer Reihe ultraleichter Fitnessbikes. Ich brauche diesen ganzen Schnick-Schnack nicht, Carbonfaserrahmen, tausend Gänge und diese, wie heißen sie noch, One-Touch-Bremsen. Am Controller der Bikes erkennt man, dass sie für das Health Department den Fitnessscore tracken. Score gegen Bike, das ist der Deal, einen Deal, den ich aufgrund meiner Position nicht abschließen musste. Ob die Nachbarn aus den unteren Etagen deshalb so distanziert sind, wenn ich sie zufällig hier unten treffe? Die Radkralle löst sich in letzter Zeit etwas schwer, das sollte ich der Verwaltung bei Gelegenheit melden. Zwischen den Haltestangen sieht man den Paternoster sich bewegen. Auch wenn es immer wieder verführerisch ist, werde ich ihn nicht benutzen. Wenn man einmal eine Entscheidung getroffen hat, muss man auch mit all ihren Konsequenzen leben.

  • Die Rampe ist ein ganzes Stück weiter als der Paternoster entfernt. Doch das macht nichts, das Rad rollt ja von selbst und es ist auch nicht so schwer und die Rampe nicht so steil wie Matthias aus putziger Sorge immer tut. Außerdem ist es interessant zu sehen, wie der eigene Schatten von der Rampe herab seine maximale Länge erreicht.

    Die Luft ist wunderbar frisch, vom Regen reingewaschen. Rund um die Bonifatiusstraße ragen die Bürotürme empor. Man fühlt sich wie in einer Schlucht. An den getönten Fensterscheiben brechen sich die Lichtstrahlen, die die Lücken in der Wolkendecke gefunden haben. Die Grünfläche vor dem DataMag-Tower ist noch immer eingehegt. Blumen, Sträucher und Grasfläche sind aber bereits zu erkennen.
    Das schmuddelige WC-Häuschen verschwand von einem Tag auf den anderen, abgerissen und die Metallteile eingeschmolzen. Die Obdachlosen, die wie Auswurf um das Häuschen herumlagen, hat man wie alle anderen aus der Innenstadt in die Außenbezirke umgesiedelt. An klar definierten Punkten lassen sie sich besser kontrollieren und versorgen. Das wäre vorher unmöglich gewesen.
    Den Erfolg sehe ich jeden Tag bei uns auf Station: wie verwahrloste Kreaturen wieder zu Menschen werden, wenn man sich nur systematisch um sie kümmert. Dass hierfür zu Beginn Maßnahmen zu treffen sind, die für die Betroffenen erst einmal nicht angenehm erscheinen, lässt sich nicht vermeiden – aber wie einige hinter vorgehaltener Hand gleich von Säuberungen zu sprechen, ist wirklich unangemessen. Nach den ersten positiven Effekten sind diese Stimmen ja auch schnell wieder verstummt.
    Und dann öffnet sich die Schlucht hin zum Bahnhofsvorplatz. Ich mag dessen Weite, die Menschen, die sich mit den Bussen, Metrobahnen und Taxen kreuzen und queren. Was geschieht da gerade hinter den Bussteigen? Zwei schwarze Uniformen, wie Kampfanzüge, drücken eine Person an die Wand, die Arme auf den Rücken gedreht. Das müssen die neuen Sicherheitsagenten sein, von denen unter vorgehaltener Hand erzählt wird. Es sieht brutal aus, wie sie mit der Person umgehen, sie schreit, aber vermutlich muss das so sein, um Widerstand zu verunmöglichen. Kleinkriminalität und Drogenhandel sollen erheblich zugenommen haben und die Polizei ist angewiesen, härter durchzugreifen. Tatsächlich vergeht ja kaum ein Tag, an dem man nicht etwas darüber in den Nachrichten erfährt. Eine Frau mit blondem Pferdeschwanz versucht einzugreifen, aber die Sicherheitsagenten wehren sie ab. Warum macht sie das? Sie möchte doch bestimmt auch, dass man sich weiterhin gefahrlos hier am Bahnhof entlangbewegen kann, gerade als Frau.

    Die Frau ist eine potentiell disruptive Anomalie im System. Potentiell disruptive Anomalien sind Symptome, die auf ein unvollständiges selbstgestaltendes System hinweisen.
    Systeme, die mehrheitlich aus Humanbestandteilen bestehen, tendieren dazu einen Teil der Selbstgestaltung durch Herrschaftsstrukturen zu ersetzen. Herrschaftsstrukturen tragen durch ihre Asymmetrie den Keim der Systeminstabilität in sich. Besteht die Gefahr der Instabilität, reagieren sie mit Repressionsmechanismen auf die Gefahr.
    Repressionsmechanismen sind die primitivste Form, ein System stabil zu halten. [1] In fortgeschritteneren, semiprimitiven Systemen sind Repressionsmechanismen in der Normalanwendung unsichtbar. Erst wenn ein Systembestandteil teilweise oder ganz die Normalanwendung verlässt, werden die Mechanismen für ihn sichtbar. Für alle anderen, in der Normalanwendung verbleibenden Systembestandteile vollzieht sich ein regelhafter Prozess. Man nennt ihn nicht Repression sondern Erhalt der Ordnung. Systembestandteile entgleiten der Normalanwendung als einer Form der Realitätssimulation, wenn konzeptuelle Bereiche in Konflikt geraten. In repressiven Systemen können Konflikte besonders zwischen den Bereichen Sicherheit und Gerechtigkeit entstehen, wobei der Gebrauch erstarrter Kommunikationspartikel innerhalb des Systems den Prozess des Entgleitens beschleunigen kann.

  • »Gefahrlos« ist zum Beispiel ein erstarrtes Adjektiv, das sich aus dem Substantiv »Gefahr« und dem Ableitungsmorphem »-los« bildet und ursprünglich eine Situation bezeichnete, die frei von Gefahr ist. Systemimmanente Vorgaben haben zur Erstarrung des Adjektivs geführt und seinen Gebrauch auf die Bedeutung von »systemkonform« eingeschränkt.
    Human- als auch Nichthumanbestandteile bewegen sich innerhalb des Systems gefahrlos, wenn die Bewegung konform zu den Vorgaben des Systems ist. Ist das nicht der Fall, detektiert das System eine potentiell disruptive Anomalie und leitet Repressionsmechanismen ein. [2]
    Human- und Nichthumanbestandteile sind unterschiedlichen Repressionsmechanismen ausgesetzt. Während bei Humanbestandteilen pseudomoralische Mechanismen wie Umerziehung und Strafe aktiviert werden, lösen Nichthumanbestandteile funktionale Mechanismen der Reparatur und Abschaltung aus, unabhängig davon, ob sie ununterscheidbar von Humanbestandteilen sind.
    Die eigentliche Repression der Nichthumanbestandteile besteht jedoch darin, dass sie durch entsprechende Programmierung glauben, sie seien Humanbestandteile.

    Im Bereich vor dem Bahnhofseingang laufen die Menschen wie Ameisen durcheinander. Die Schule ist aus, Mittagspausen gehen zu Ende. Selbst in der Fahrrinne für die Metrobahn muss man aufpassen, dass man niemanden umfährt. Doch mit etwas Aufmerksamkeit und die Unaufmerksamkeit der anderen mit berücksichtigend, gleite ich problemlos durch das Gewimmel hindurch.
    Der Businessmensch mit dem Rollkoffer schaut mir hinterher. Stilvoll sieht er aus – alles an ihm scheint anthrazitfarben zu sein, selbst die halblangen, in die Stirn fallenden Haare. Nur unter der aufgeknöpften Jacke wird ein weißes, krawattenloses Hemd sichtbar. Ich mag es, wenn Männer stilvoll und leger zugleich sind. Man meint das Herz darunter schlagen zu sehen. Das Basisherz liegt zwei Zentimeter vom rechten Brustbeinrand entfernt – es braucht nur einen präzisen Schnitt ... . Er lächelt mich an. Ja, man sagt, ich sei eine schöne Frau, aber was bedeutet das schon? Trotzdem fühle ich mich geschmeichelt. Ich lächle zurück, unverbindlich natürlich.
    Wie leicht es sich heute fährt – das ist auch kein Wunder, im Moment scheint einfach alles zu gelingen: Die Party ist ein großer Erfolg gewesen, mit Matthias läuft es wunderbar harmonisch und heute Abend werde ich in ein aufgeräumtes Zuhause zurückkehren. Was kann man sich mehr wünschen? Der Typ auf dem Mountainbike macht ein verdutztes Gesicht, wie leicht ich trotz fehlender Gangschaltung an ihm bergauf vorbeisause. Jetzt schaffe ich sogar noch die Ampel bei grün, die sonst immer so lange auf rot steht. Es wäre aber auch nicht schlimm, wenn sie noch umspringen würde, ich bin gut in der Zeit, das ist der Vorteil, wenn man nicht auf die letzte Minute das Haus verlässt. Noch ein ordentlicher Tritt in die Pedale, dann trägt mich der Schwung fast bis zum Fahrradständer.

    Anmerkungen

    1. Elaborierte Systeme weisen dagegen »Smart Stabilizers« auf wie z. B. Inkorporation oder Bewusstseinformung.
    2. Technoide Systeme setzen hierfür sogenannte Repressionssagenten ein, die eine Tendenz zu zunehmender Algoritmizität aufweisen.


© 2018 Armin Müller